Wie ein Vogel mit Brummschädel

Ayya Rakkhita • 4. Oktober 2025

Repost einer Nonne auf Wanderschaft

Ayya Rakkhita, eine buddhistische Nonne auf Wanderschaft, teilt in ihrem Blog diese Geschichte eines kleinen Vogels und ihre Gedanken zum Umgang mit Unangenehmen in der Meditation und darüber hinaus:

Im Juli traf ich eines strahlend schönen Vormittags auf einen kleinen Vogel, der benommen vor der Glastüre des Gartenschuppens saß, in der sich die Büsche und Bäume der Umgebung spiegelten. Offensichtlich war der kleine Kerl gegen die Scheibe geflogen. Keine zwei Meter von den Katzenhäuschen entfernt, hockte der Ärmste mit Brummschädel da und konnte sich nicht rühren.

Mir war sofort klar, dass sein Leben zu Ende wäre, wenn die Katzen zurück kommen. So setzte ich mich in einiger Entfernung für geschätzte 10 min neben die Katzenhäuschen um ihn vor allfällig auftauchenden Katzen zu beschützen.

In den folgenden 1,5 Stunden hatte ich viel Gelegenheit, meine wachsende Ungeduld zu beobachten.

Als er sich schließlich wieder bewegen konnte und ins nächste Gebüsch in Sicherheit flatterte, ging ich frohen Gemüts in meine Kuti zurück. Voller Freude, meine Ungeduld überwunden und den kleinen Kerl nicht im Stich gelassen zu haben.

Zwei Wochen später traf ich kurz vor dem Mittagessen abermals einen kleinen Vogel an, der mit Brummschädel neben der spiegelnden Glastüre saß. Da ich keine 1,5 Stunden Zeit hatte, wollte ich ihn schon seinem Schicksal überlassen. Doch beim Gedanken, was die Katzen mit ihm machen würden, brachte ich es doch nicht übers Herz.

Da kam mir die Idee, dass hinter dem Haus ein Vogelhäuschen stand, das mit einem Katzenschutz versehen war. Da wäre er auch ohne mich in Sicherheit!

Ganz langsam und vorsichtig, um ihm nicht mehr Angst als nötig einzujagen, ging ich zu ihm hin und kauerte mich neben ihn. Ganz vorsichtig und sachte schob ich meine kleinen Finger unter seine Füßchen und hob ihn mit weit geöffneten Händen hoch. Die Finger so nah, dass ich ihn stützen konnte, falls er umkippt, aber doch so weit weg wie möglich, um ihm nicht noch mehr Angst einzujagen. Sein kleiner Schnabel zuckte immer wieder, als wolle er wegfliegen, aber er konnte einfach nicht. Welche Angst der Kleine haben musste!

Ganz langsam und vorsichtig ging ich langsamen Schrittes um das Haupthaus herum in den Garten, wo ich ihn sachte in das Vogelhäuschen setzte.

Leider kam mir keine einzige Sekunde die Idee, jemanden um ein Foto zu bitten, obwohl sich die Gelegenheit geboten hätte. Es hätte wunderbar zu diesem Beitrag gepasst. Und zum Glück wiederholte sich der Vorfall nicht, so dass sich auch keine Gelegenheit mehr ergab.

Später in der Meditation kam mir plötzlich folgender Gedanke:

Wenn unangenehme Empfindungen auftauchen, seien es körperliche oder emotionale, so sollte ich sie genau wie diesen verletzten, verängstigten Vogel behandeln. Sie höchstens ganz vorsichtig mit den Fingerspitzen berühren und ganz sachte die weit geöffneten Hände unter sie schieben, um ihnen Halt und Geborgenheit zu schenken, ohne ihnen zu Nahe zu kommen und Druck aufzubauen. Ihnen den Raum und die Zeit geben, um sich vom „Brummschädel“ zu erholen. Ohne einzugreifen und den Prozess beschleunigen zu wollen, so lieb das auch gemeint sein mag. Wie oft versuchte ich, die schmerzenden Stellen bewusst zu entspannen. Ohne den geringsten nachhaltigen Erfolg.

Stattdessen schob ich im Geist meine weit geöffneten Hände sachte unter die verspannte Stelle und gab ihr Halt, so dass sie, wenn die Zeit für sie reif war, loslassen und entspannen konnte.

Fragte sie, ob sie etwas von mir braucht oder ich etwas für sie tun könnte. Und manchmal kam auch tatsächlich eine Antwort. Wurde darauf hingewiesen, wie ich Verspannungen verursache und worauf ich achten kann, um es zukünftig zu vermeiden. An Körperstellen und Verhaltensweisen, auf die ich selbst nie gekommen wäre!

Ich entdeckte dadurch geistige Strukturen, die Verspannungen verursachen und konnte daran arbeiten, auf die Bedürfnisse dieser Strukturen Rücksicht zu nehmen. So konnten sie ihre Funktion im System wieder reibungslos erfüllen oder, wenn sie nicht mehr gebraucht wurden, sich ganz natürlich und ohne mein Zutun auflösen.

Das „Ich“ verursacht so viel Chaos und Schmerz, indem es sich in alles einmischt, anstatt einfach nur die körperlichen und mentalen Strukturen ihre Arbeit erledigen zu lassen. So wie sie es für richtig halten.

Es ist gar nicht nötig einzugreifen. Es reicht völlig, fürsorglich aber zurückhaltend da zu bleiben, allenfalls zu fragen, ob etwas gebraucht wird und geduldig den Dingen ihren Lauf zu lassen.

Wie bei einem kleinen Vogel mit Brummschädel…


Repost mit freundlicher Erlaubnis von Ayya Rakkhita. Nach 6-jähriger Ausbildung zur buddhistischen Nonne im Kloster Anenja Vihara im Allgäu, hat sie sich auf Wanderschaft begeben, berichtet auf ihrer Website von ihren Erfahrungen und teilt inspirierende buddhistische Texte und Chantings. Wer eine Wander-Bhikkhuni ohne festen Wohnsitz unterstützen möchte, z.B. mit Beiträgen zur Krankenkasse, ist herzlichst eingeladen. Mehr dazu auf https://rakkhita.net/

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