Achtsam essen
Achtsamkeit im Alltag

Es ist der klassische Einstieg in den MBSR-Kurs und vieler verwandter Formate der Achtsamkeitspraxis: Die Teilnehmenden werden eingeladen, sich auf ein kleines Experiment einzulassen – in einer angeleiteten Übung mit einem Mini-Snack erleben sie, wie sich achtsames Essen anfühlt. Und tatsächlich sind Mahlzeiten auch im Alltag eine wunderbare Gelegenheit, Achtsamkeit zu üben. Doch gute Vorsätze werden oft von Ablenkungen, Gewohnheiten und einer Esskultur überlagert, die anderes in den Vordergrund stellt. Umso mehr lohnt es sich, diesem Thema etwas Aufmerksamkeit zu widmen und vielleicht einen (erneuten) Entschluss zu fassen.
In der Übung des achtsamen Essens – etwa mit einer Rosine, einer Nuss, einem Stück Schokolade oder einer anderen Kleinigkeit – erfahren wir sehr viel über Achtsamkeit. Mit voller Aufmerksamkeit beim Essen zu sein bedeutet, bewusst zu sehen, zu riechen, zu fühlen, zu schmecken und auch die inneren Vorgänge wahrzunehmen: Gefühle und Gedanken, die damit verbunden sind. Das kann – auch bei wiederholter Praxis – eine eindrucksvolle Erfahrung sein: So fühlt es sich an, wirklich offen und präsent im gegenwärtigen Moment zu sein und Bewertungen loszulassen. Da gibt es so viel zu entdecken! Und wie entspannt, klar und verbunden können wir uns fühlen, wenn wir eine Mahlzeit bewusst erleben.
Beim Essen befinden wir uns in einem Modus des Aufnehmens. Das parasympathische Nervensystem wird aktiviert, und eigentlich möchte der Körper in Entspannung übergehen. Schnelles, unachtsames Kauen steht dazu jedoch im Widerspruch und kann sogar Stressmechanismen aktivieren. Lilian Cheung und Thich Nhat Hanh weisen in ihrem Buch über achtsames Essen auf einen bemerkenswerten Aspekt hin: Wie viele Sorgen, Kummer, Pläne für die Zukunft oder Ärger „essen wir eigentlich mit“, wenn wir während einer Mahlzeit intensiv daran denken? Es gibt also viele gute Gründe, Achtsamkeit beim Essen zu kultivieren.
Wenn wir uns vornehmen, im Alltag öfter achtsam zu essen, machen wir die Erfahrung, dass das trotz bester Absicht oft gar nicht leicht ist. Selbst wenn wir allein sind, stellen wir fest, wie schnell wir abgelenkt werden: Gedanken schweifen ab, die Hand greift automatisch zum Handy, zur Zeitung oder zum Radio. Doch gerade hier erinnert uns die Praxis: Auch dieses Geschehen können wir achtsam beobachten. Wir können bewusst wahrnehmen, wie der Geist zu Vergangenheit oder Zukunft gezogen wird, wie Unruhe, Ungeduld und schnelle Impulse entstehen oder dass wir vielleicht gerade Ärger ins uns tragen. Und wir können feststellen, wie schwierig es manchmal ist, die Geschwindigkeit des Alltags loszulassen, um eine Sache in Ruhe zu erfahren.
Wenn wir auch diesen Erfahrungen mit Achtsamkeit begegnen, lernen wir viel über uns selbst und das Wesen des Geistes. Und wir können uns immer wieder entscheiden, zum ursprünglichen Übungsobjekt zurückzukehren: achtsam essen. So kann – mit Geduld und Freundlichkeit – mehr Ruhe einkehren. Ein Moment der Achtsamkeit führt zum nächsten und so weiter.
Manchmal jedoch stellt uns die Lebensrealität beim Essen vor besondere Herausforderungen: Es muss schnell gehen, hundert Dinge lenken uns ab, oder beim gemeinsamen Essen in Familie oder Beruf scheint der Rahmen nicht ideal, um achtsam zu sein. Wirklich? Was spräche dagegen, nur die ersten zwei Minuten einer Mahlzeit bewusst zu gestalten, einen kleinen Snack oder eine Tasse Tee als Achtsamkeitszeit zu nutzen oder andere mit einzubeziehen, indem wir das Gespräch öfter auf den gegenwärtigen Moment zurücklenken – statt uns gemeinsam davon wegtragen zu lassen?
Natürlich braucht es dafür Entschlusskraft und die Erinnerung an die innere Ausrichtung. Unterstützend wirkt, wenn wir uns die Qualitäten dieser Praxis immer wieder bewusst machen. Im Erleben erkennen wir: Da ist Achtsamkeit. Da ist Klarheit. Da ist Ruhe. Da ist Gelassenheit. Da ist Freude. Da ist Präsenz.
Rituale können zudem helfen, neue Gewohnheiten zu entwickeln und eine bewusstere Esskultur zu etablieren. Ein kurzes Innehalten vor dem Essen kann dazu gehören: wahrnehmen, was auf dem Teller liegt, Dankbarkeit für Natur und Menschen empfinden, die zu dieser Mahlzeit beigetragen haben – und sich sich ausrichten auf die Haltung der Achtsamkeit bei den folgenden Bissen.
Zum Vertiefen dieses Themas lohnt sich ein Blick in das Buch von Lilian Cheung und Thich Nhat Hanh: „Achtsam essen – achtsam leben. Der buddhistische Weg zum gesunden Gewicht“, das Wissen über Ernährung und Bewusstseinshaltung auf inspirierende Weise verbindet.